Zwei Leben zu leben, war intensiv

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Frau Blocher, sind Sie eine emanzipierte Frau?

Silvia Blocher: Ich meine ja. Gemessen an anderem, was man so hört, bin ich es aber wahrscheinlich nicht.

Bedeutet Emanzipation für Sie, Karriere zu machen?

Nein, Emanzipation bedeutet für mich, so zu leben und handeln, wie es einem entspricht, sei man Frau oder Mann.  Ich wuchs im Zürcher Oberland auf, in einem Dorf, und als ich in der Sekundarschule war, rief der Lehrer meine Eltern an und fragte, ob ich an die neue Kantonsschule in Wetzikon gehen wolle. Ich wusste gar nicht, dass es das gibt, und meine Eltern wussten es auch nicht. Aber sie fanden, ich solle das machen. Kein Gedanke daran, dass ich ‘ein Mädchen’ war. Später hatte ich eine Chemielehrerin, eine Matheprofessorin. Es war nicht so, dass Frauen abwesend waren

Würden Sie sagen, sie haben Karriere gemacht?

Ich habe in meinem Leben viel gemacht, ich bin zufrieden damit. Aber zu sagen, dass es eine Karriere war, deckt sich nicht mit meiner Vorstellung davon. Eine Karriere macht jemand, der ein klares Ziel hat und das sehr strebsam verfolgt.

Sie hatten kein Ziel, das Sie strebsam verfolgten?

Nein, das Ziel hat sich immer wieder verändert. Ich machte die Matura. Vorher ging ich nach Amerika für ein Austauschjahr. Dann studierte ich Mathi. Dann gab ich Schule, weil es einen Lehrermangel gab. Ich fand es einen lässigen Beruf und blieb.

Das Mathestudium liessen Sie fallen.

Ich dachte: Wenn ich das Studium weiterführe, lande ich am Ende in einer Versicherung. Computerprogramme schreiben, das hätte mich zwar fasziniert, aber das war noch in den Anfängen. Ich war damals schon mit meinem Mann zusammen und sagte mir: Wenn wir heiraten, und du bist Lehrerin, hast du einen Beruf, der dir gefällt, und du kannst Geld verdienen. Mein Mann war bei der Hochzeit ja noch Student. Bei meinen Eltern kam das nicht so gut an: So ein Student, bei dem man nicht wusste, was noch aus ihm wird.

Ein Unfertiger?

Ja, meine Mutter sagte: «Im Grunde heiratest du einen Bauernknecht. Er hat ja keinen Hof und nichts. Da sagte ich: «Ja, dann gehe ich halt go puure.»

Sie sagten einmal: «Ich wollte nicht einfach einen Mann mit Doktortitel heiraten, sondern war überzeugt: Den mache ich selber.»

Davon war ich überzeugt. Wann habe ich das gesagt?

Schon lange her. Dass Sie den Doktortitel nicht selbst gemacht haben, haben Sie das bereut?

Nein, gar nicht.

Wirklich?

Sicher nicht.

Sie dachten nie: Ich habe alles für einen Mann aufgegeben?

Wenn es mich gestört hätte, hätte ich es geändert.

Sie sagten uns im Vorgespräch, Sie seien daran, Ihr Leben aufzuschreiben. Was ist Ihre vorläufige Bilanz?

Ich hatte immer Glück im Leben. Ich habe gottlob keine Katastrophen erleben müssen. Ich habe sehr gerne die Kinder auferzogen, das war übrigens damals noch sehr streng. Die Windeln musste man waschen, Papierwindeln waren erst im Kommen. Es gab keine pflegeleichten Textilien; die Babysachen musste man von Hand waschen. Um noch einmal auf die Emanzipation zu kommen: Meine Mädchen sind alle gar nicht, was man geläufig ‘Emanze’ nennt. Obwohl sie alle…

…sehr emanzipiert sind: Unternehmer/-innen, alle.

In der Erziehung war für mich selbstverständlich, alle vier, Buben wie Mädchen gleich zu erziehen. So wie ich es selbst schon erlebt hatte.

Wieso schreiben Sie Ihr Leben auf?

Als mein Mann im Bundesrat war, wurde ich manchmal gefragt, ob ich nicht einen Vortrag halten, aus meinem Leben erzählen würde. Zudem gibt es Episoden, die ich spontan aufschreibe. Ich habe ja gebaut, ein Museum für unsere Bilder, und plötzlich dachte ich: Jetzt musst du das aufschreiben, wie es gegangen ist, irgendwie auch als Abschluss.

Sie sagen: Ich habe gebaut.

Ja, das Bauen war immer mein Projekt. Schon als wir unser Haus in Herrliberg gekauft hatten. Mein Mann wollte damals nicht zügeln, er sagte: «Ich habe keine Zeit, zu bauen.» Ich sagte: «Ich mach es.» Als wir dann noch Land zukaufen konnten für das Museum, war ich froh, wieder allein bauen zu können. Allein ist es einfacher.

Was haben Sie beim Schreiben über sich gelernt?

Dass das mit den Kindern schon früh angelegt war. Ich wurde Lehrerin. Später bekam ich Kinder, dann Enkel. Wenn man mich als Teenager gefragt hätte, hätte ich das nicht vorausgesagt.

Dass Kinder so wichtig werden in Ihrem Leben: als Lehrerin, als Mutter?

Ja, genau.

Also hätten Sie sich auch ein Leben ohne Kinder vorstellen können?

Man hat ja Bekannte, die keine haben. Aus heutiger Sicht dünkt es mich sehr schwierig.

Uns scheint, Sie seien privilegiert aufgewachsen: Sie konnten studieren, Sie konnten für ein Austauschjahr nach Amerika gehen.

Mit sechzehneinhalb Jahren. Das muss man sich einmal vorstellen, wenn man selbst Kinder hat!

Sie hätten sich selbst nicht gehen lassen?

Unsere vier Kinder haben alle auch ein Austauschjahr in einem anderen Erdteil gemacht. Wir gingen damals mit dem Schiff, die Überfahrt dauerte zehn Tage, ich wurde seekrank. Es war nicht einfach: Ich wusste nicht, wohin ich komme. Ich hatte davor in der Schule vielleicht ein Jahr lang Englisch gelernt, mehr nicht, ich verstand von jener Familie, die mich in New York abholte, nur den Vater. Man meint, Amerika sei der Schweiz ähnlich, weil die Leute ähnlich aussehen – aber es ist eine andere Welt.

Was haben Sie in Amerika gelernt?

Vieles. Sich zurechtzufinden, durchzusetzen. Auch meine ganze politische Einstellung kommt von da.

Inwiefern?

Mein Aufenthalt lief über den American Field Service, eine weltumspannende Organisation, die die Völkerfreundschaft nach dem Krieg pflegen wollte. Erwartet wurde, dass man die Schweiz in Amerika als Ambassadorin vertritt. Als ich mich anmeldete, musste ich einen Test absolvieren, in einem Büro in Zürich stellten sie Fragen: über das Frauenstimmrecht, das es noch nicht gab, die Uno, zu der die Schweiz noch nicht gehörte. Es wurde die offizielle Doktrin erwartet, aber ich musste mir überlegen: Was ist die Schweiz für mich?

Dann wurden Sie über Amerika zur Schweizerin?

Eindeutig. Was mir die Schweiz bedeutet, habe ich, völlig auf mich selbst gestellt, in Amerika gelernt. Ich konnte damals nie nach Hause telefonieren, ich habe nie Deutsch gesprochen, das ganze Jahr nicht.

Was haben Sie vermisst?

Von Daheim war ich gewohnt, in einem Dorf zu leben, mit einem Zentrum, mit Läden, die Kirche stand im Dorf. Und die Bräuche waren stark, z. B. an der Fasnacht stand ich als Kind auf dem Balkon und schaute dem Umzug zu. Es gab junge Burschen in Anzügen, die man aus den Hodler-Bildern kennt, mit Hellebarden, Spiessen, Armbrust, auch der Tell lief mit, dann gab es Trommler und Pfeifer. Und wenn sie stehen blieben, spielten sie aus Schillers Tell den Rütlischwur. Damit bin ich aufgewachsen, darin habe ich gelebt. Dann kam ich nach Middletown, Ohio, in eine Industriestadt mit fünfzigtausend Einwohnern. Alles war sehr anonym. Man ging nie zu Fuss irgendwo hin, immer mit dem Auto. Das Sozialleben war in der Schule organisiert, sonst blieb da nur das Shopping-Center. Zum Glück hatte ich eine nette Familie.

Sie vermissten das Dorf?

Und das öffentliche Leben, das Vertraute. Was wir zuhause in Wald machten, hatte einen Inhalt. Wenn Sie mit dem Auto ins Shopping-Center fahren, sind Sie im Leeren. Ich wurde aus einem Ort herausgerissen, aber am anderen Ort gab es wenig Boden, um die Wurzeln hineinzustecken.

Das hat Sie zur Konservativen gemacht?

Amerika ist gross und weit, kein Ende, kein Anfang. Da habe ich den Wert von Wurzeln erkannt. So begann ich politisch zu denken.

Sie kehrten in die Schweiz zurück und heirateten einen Mann, der zum dominierenden Politiker der nächsten Jahrzehnte werden würde. Sie sagten einmal: «Er war ein Mann, dem ich mich nicht überlegen gefühlt habe.»

Er wusste immer viel, war sehr interessiert, das vor allem, das hat mich fasziniert.

Sie waren es sich also nicht gewohnt, dass Sie zu Männern hochschauen können.

Man hat ja einen Haufen Bekanntschaften im jungen Alter. Und ich habe immer ein bisschen gelitten darunter, dass… Ich dachte, ich heirate nie. Ich fand den Richtigen irgendwie nicht. Als mein Mann kam, war es dann sofort anders. Es gab nicht viele Männer, bei denen ich gefunden habe, da könnte ich auf Augenhöhe reden. Aber das war nicht, weil sie dümmer gewesen wären – eher von den Interessen her: zum Beispiel, was die Literatur betrifft, oder philosophische Fragen.

Haben Sie die gleiche Ebene beibehalten?

Ich denke schon. Die Leute haben immer gesagt: «Die machen alles gemeinsam!» Ich war immer sehr interessiert an der Politik, auch am Geschäftlichen. Und mein Mann war jemand, der sich mitteilte. Wir nahmen die Kinder mit auf Geschäftsreisen ins Ausland und ferne Erdteile und besuchten mit ihnen die Fabriken. Ich fühlte mich sehr verbunden mit dem Unternehmen, mit der Politik, auch mit dem Militär. Wir holten meinen Mann jeweils ab, wenn er aus dem WK kam. Als er Bundesrat wurde, fiel ich deshalb in ein Loch.

Wieso?

Als Frau des Bundesrats sind Sie überflüssig, umgekehrt als Mann auch.

Sie waren auch nicht Ambassadorin?

Gar nicht, das war ein Tabu. Auch wenn ich denke, dass es schon Aufgaben gegeben hätte.

Sie waren also in Bern und wussten nicht, was tun?

Ja, ich führte dort den Haushalt. Mehr konnte ich nicht tun. Vorher war ich voll integriert. Ich bin SVP-Mitglied, ich war AUNS-Mitglied. Im Abstimmungskampf zum EWR habe ich sehr viel mitgearbeitet. Ich habe die Vorträge von meinem Mann organisiert, ich ging immer mit. Wer jeden Tag drei Mal auftritt, braucht jemanden, der einem sagt, wie die Atmosphäre ist, was er noch sagen müsste.

War die Bundesratszeit die Schlimmste Ihres Lebens?

Es war schwierig. Alle glaubten, sie müssten etwas Schwarzes finden bei uns. Einmal musste ich meinen Mann begleiten an einen Anlass, wir flogen mit dem Helikopter hin, das war nötig, weil es anders nicht gereicht hätte vom Verkehr her. Auf dem Flug bekam ich Migräne und sagte: «So kann ich unmöglich mitkommen.» Also sind wir über Herrliberg geflogen, und ich bin ausgestiegen. Sie glauben nicht, was das für eine Affäre wurde in diesem Bern.

Die «Weltwoche» schrieb einmal, Sie seien eine der wichtigsten Beraterinnen Ihres Mannes. Stimmt das?

Mein Mann hat das jeweils auch so gesagt. Gewisse Probleme haben wir gemeinsam beraten.

Es gibt diese Szene aus dem Dokumentarfilm von Jean-Stéphane Bron, da fragen Sie Ihren Mann französisches Vokabular ab. Da waren Sie wieder Lehrerin.

Vielleicht konnte ich in der Rolle, die ich hatte, mehr Berufe leben als das sonst in einem Leben möglich ist.

Und doch: Ihr Mann stand politisch im Mittelpunkt, fünfzig Jahre lang. Es muss schwierig sein, in so einer Beziehung den Platz zu behaupten.

Die Beziehung führen wir daheim, zu zweit, in der Familie, unter Freunden. Aber es ist schon so: Wo mein Mann hinkommt, auf eine Alp, in eine Wirtschaft, alle kennen ihn. Es gibt Leute, die kommen herangerannt. Ich bin dann natürlich niemand, ich stehe daneben, aber ich beneide ihn nicht. Mein Mann muss zuhören, was die Leute gerade auf dem Herzen haben. Er ist dann Teil dieser Leute. Sie haben ihn in Teilen annektiert.

War das die grösste Belastung? Sie sind selten zu zweit?

Jetzt eher wieder. Wir essen zu zweit am Abend, hier bei uns. Aber sobald wir raus gehen, leben wir ein allgemeines Leben, eines in der Gemeinschaft, die Leute drängen sich da rein. Darum ist unser Grundstück umgeben von einer Mauer. Wir zogen damals probehalber ein, weil das Haus gerade leer stand. Da hatten wir noch keine Mauer. Die Leute kamen bis zum Esszimmer herunter und schauten durch das Fenster.

Nervt es manchmal, «Frau von» zu sein?

Ich definiere mich nicht so. Ich habe ein Leben, das lebe ich. Darin ist es mir wohl.

Leute, die Sie kennen, sagen: «Sie hat ihrem Mann immer die strenge Linie vorgegeben, besonders als er Bundesrat war. Sie ist radikaler als er.» Stimmt das?

Von vielen Geschäften hatte ich keine Ahnung. Das waren viele kleine Sachen, sicher auch wichtige, aber die haben mich nicht interessiert. Und sonst? Vielleicht haben wir ab und zu über etwas gesprochen und uns gefragt: Wie macht man das jetzt als Bundesrat? Kann man oder nicht? Möglich, dass ich da mal gesagt habe: «Also Christoph, da musst du jetzt wirklich sagen, wie es ist. Das geht so nicht.»

Das Klischee ist ein anderes: Frauen sind milder.

Was heisst denn milder? Wem gegenüber? Einem selbst halt.

Waren Sie eine strenge Lehrerin?

Streng, aber auch beliebt. Wir haben uns gern gehabt, Schüler und Lehrerin.

Sie schrieben über die Zeit im Bundesrat, Sie hätten immer Angst gehabt, jemand warte mit dem Dolch hinter Ihrem Mann. Hatten Sie das Gefühl, Sie müssten ihn beschützen?

Auf eine Art schon. Er wurde für viele eine Feindesfigur. Sie hätten ihn gern pflegeleicht gehabt, was er natürlich nicht war. Da wäre ich auch nicht einverstanden gewesen, um Ihre Frage von vorhin noch zu beantworten.

Wie war die Stimmung Ihnen gegenüber?

In unserem Berner Quartier war die Stimmung auch mir gegenüber feindselig. In diesem Bern ist ja jeder und jede in irgendeiner Form mit einem Bundesamt verhängt. In Zürich riefen sie Grüezi oder winkten. In Bern lief ich durch die Gassen, und wenn jemand kam, starrte er und starrte, und ab drei Metern Distanz, wenn man Grüezi sagen sollte, schaute er auf den Boden und lief vorbei. Das fand ich weder weltmännisch noch diskret. Sondern einfach seltsam.

Haben sie «dieses Bern» später irgendwann noch gern bekommen?

Bern als Stadt ist ja sehr schön, auch architektonisch. Ich mache noch heute meine Weihnachtskäufe dort. Das Personal ist nett, die Leute bemühen sich um ihre Kunden. Aber wenn Sie dort leben, den Abfall auf der Strasse liegen sehen, und diese Sprayereien! Vielleicht ist es heute besser, das weiss ich nicht.

Also war der Tag der Abwahl aus dem Bundesrat, für Ihren Mann eine Niederlage, für Sie eine Erleichterung?

Es war meine Erlösung. Vielleicht war es wirklich die schlimmste Zeit meines Lebens.

Sie sind bald 55 Jahre verheiratet. Was haben Sie gelernt über die Ehe?

Sie ist eine dauernde, sich wechselnde Beziehung. Sie ändert mit den Umständen, den Befindlichkeiten, der Gesundheit. Die Ehe ist nicht statisch.

Viele lassen sich scheiden, weil sie sagen: Der andere ist nicht mehr der Gleiche.

Natürlich ist der andere jemand anderes. Wenn eine Beziehung aus diesem Grund endet, ist jemand stehengeblieben. Es darf nie so sein, dass der eine die Entwicklung macht – und der andere nur hinterherläuft. Das war bei uns nicht immer einfach, weil klar war, wer von beiden in der Öffentlichkeit steht. Aber einmal, als ich wirklich kaputt war, sagte ich zu meinem Mann: «Weisst du, ich lebe zwei Leben. Deines und meines. Das ist eine grosse Belastung.» Ich wollte mein Leben nicht aufgeben. Aber zwei zu leben, war intensiv.

Ihr Mann sagte einmal: «Für viele haben Männer einen Heiligenschein, wenn Sie den Wunsch Ihrer Ehefrauen über alles stellen. Diesen Konflikt darf man nicht scheuen. Die umfassende Harmonie ist nicht das höchste Glück der Ehe.»

Das erzählt er überall, dann sage ich: «Musst du das immer sagen!? So denken ja alle, wir hätten von morgens bis abends Streit!» Dann sagt er: «Du siehst nicht, was das für eine Wohltat ist für die Leute. Wie sie erleichtert sind, wenn sie denken: Ah, bei denen ist es auch nicht anders.» Und es stimmt ja auch. Wir haben nicht nur eitel Harmonie.

Wie war das mit der Harmonie, als Ihr Mann in den achtziger Jahren gegen das neue Eherecht kämpfte, und dafür, dass Ehefrauen weiterhin keine eigenen Verträge unterzeichnen dürfen?

Ihm ging es dabei vor allem um die unteilbare Verantwortung. Er war nicht fürs alte, aber für ein besseres neues Eherecht und das fehlt jetzt.

Man sagt: Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau. Glauben Sie, das stimmt?  

Wenn der eine stark ist und der andere schwach, gibt es ein Ungleichgewicht. Vielleicht finden sich zwei Starke eher.

Es gibt auch jene Starken, die keine Stärke neben sich zulassen. 

Dann ist der vermeintlich Schwache in der Beziehung vielleicht eben doch stark. Und sei es nur, weil er den anderen aushält. Oder stark auf einem anderen Gebiet.

In welchem Gebiet sind Sie klar stärker? 

(Lacht.) Ich kann wirklich besser Kartenlesen als mein Mann. Obwohl ich es bei ihm gelernt habe.  

Haben Sie Ihre Kinder allein erzogen?

 Ja, das lag massgeblich bei mir. Aber in schwierigen Situationen war er auch da.

Alle Ihre vier Kinder sind Unternehmer/-innen geworden. Wie erklären Sie sich das?

Wenn mein Mann abends nach Hause kam, habe ich ihm Znacht gemacht und alle vier Kinder, schon im Pyjama, sind zu ihm in die Eckbank gehöcklet. Dann hat er angefangen zu erzählen. Er erzählte mir, aber die Kinder kriegten alles mit. So nahmen sie das auf, irgendwie unbewusst.

Haben Sie früh beobachtet, dass die Kinder nach dem Vater kommen?

Irgendwo habe ich einmal gelesen, Kinder seien wie Pfeile. Sie werden abgeschossen bei der Geburt, dann entfernen sie sich, jeder Pfeil hat seine Richtung, und diese liegt im Kind selbst. Man muss sie gehen lassen in jene Richtung, die die ihre ist.

Was bedeutet das für die Erziehung?

(Lacht.) Ganz ehrlich: Man versucht dann doch zu schauen, dass der Pfeil in die richtige Richtung geht. Falls er ganz falsch flöge? Man will ja keinen Pfeil, der im Abseits landet.

Wie erzieht man Kinder, wenn man so reich ist, alles ermöglichen könnte?

Zuerst hatten wir nicht besonders viel. Und als mein Mann die Ems-Chemie übernahm, hatten wir viele Schulden. Als die Kinder studierten, erarbeitete ich mit ihnen ein Budget, ich sagte: «Wenn es nicht reicht, kommst du.» Und niemand kam. Nur der Sohn fragte ganz am Schluss, vor der Doktorfeier, ob wir ihm Geld leihen könnten für einen Anzug.

Sie schickten Ihre Kinder zuerst auf die Sekundarschule, erst danach auf das Gymnasium, weil sie fanden: Die Kinder sollen noch zu Hause Mittag essen. Warum war das so wichtig?

Ich bin halt eine andere Generation. Am Mittag war die Hauptmahlzeit, und ich wusste aus eigener Erfahrung: Am Gymnasium gibt es einen Kiosk, da ist schnell etwas Süsses gekauft. Ich fand, das Essen sei gesünder daheim, wenn ich koche. Und es war geordnet. Wir haben immer zusammen gegessen, morgens, abends, mittags.

Haben Sie als Köchin die Familie zusammengehalten?

Ich meine, mich eingesetzt zu haben für die Familie. Aber Zusammenhalten ist ein grosses Wort. Es gibt Leute, die können nicht daheim kochen, weil sie arbeiten müssen. Ich will nicht sagen, dass man die Familie anders nicht zusammenhalten könnte.

Ist Familie ein Wert?

Etwas Wertvolles, wenn man es hat.

Wie ist es, Pensionärin zu sein?

Ich bin es ja nur theoretisch.

Was machen Sie denn?

Ich bin vorläufig immer noch Verwalterin unserer Liegenschaften, von den Häuser und dem Park. Da fällt extrem viel an. Ich habe Angestellte in Haus und Garten, einiges mache ich auch selbst. Wir bekommen sehr viele Einladungen, fast zu viele. An einem Wochenende im Juni mussten wir mindestens zehn Einladungen ausschlagen. Im Alter hat man vielleicht auch weniger Kapazität.

Werden Sie gerne älter?

Wenn älter werden bedeutet, mehr Gebrechen zu haben, dann nicht. So weit bin ich gottlob noch nicht. Sonst kann ich vieles gelassener nehmen als früher.

Ihr Mann ist jetzt öfter zu Hause. Geht das gut?

Er ist gar nicht so oft daheim. Er geht ins Büro, dort telefoniert er, beantwortet Post, liest Zeitung, halt das, was zum Politikersein gehört. Das ist er ja immer noch. Und dann ist da noch das Geschäft und die Kunst.

Wie wollen Sie gemeinsam alt werden?

Vorläufig machen wir es einfach. Wir passen uns den Umständen an. Wenn es so geht wie jetzt, werden wir hier älter. Vielleicht brauchen wir später mehr Unterstützung, auch Pflege. Schwierig wird es, wenn man plötzlich alleine wäre.

Wenn man so lange zusammen ist: Hat man mehr Angst vor dem eigenen Tod oder vor dem Tod des anderen?

Eher vor dem Tod des anderen, vor meinem Tod habe ich nicht so Angst. Aber ich möchte schon noch nicht grad morgen gehen.

Dieser Text wurde am 26. Juli 2022 von der NZZ (Samuel Tanner) publiziert.

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