Alzheimer: Meine Freundin Anna

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Anna

Gerührt sitze ich vor dem liebevollen Brief, den mir meine langjährige Freundin Anna zum Geburtstag geschrieben hat. Vor bald 30 Jahren sind wir uns auf einem Spazierweg begegnet, jede mit einer Hand den Kinderwagen stossend, an der anderen ein quengelndes Kleinkind. Wir haben uns schnell gefunden: Beide waren wir beschäftigt mit der Betreuung und Erziehung unserer vier Kinder. Wir freuten uns zusammen an ihrer Energie und Munterkeit: wir sorgten uns zusammen, wenn sie krank waren oder uns sonst Sorgen bereiteten. Alle paar Jahre gönnten Anna und ich uns eine Auszeit, während der wir für einige Tage in ein Hotel fuhren, uns ausruhten und uns mit Wellness und Massage verwöhnen liessen. Das vertiefte unsere Freundschaft, die teilweise auch unsere Männer einschloss.

Natürlich war Anna auch bald in unseren Lesezirkel eingetreten. Um nicht ganz in Windelwaschen und Säuglingsnahrungzubereitung zu versinken, hatte ich schon früh mit einigen anderen jungen Müttern zusammen eine Literaturgruppe gegründet. Bis heute treffen wir uns alle zwei Wochen bei einer von uns zuhause, früher abends, wenn die Kinder im Bett waren, jetzt nachmittags.

Diese tiefe Freundschaft beschreibt Anna in ihrem Geburtstagsbrief. Welch schöner Beweis der Zuneigung!

Und doch steigt in mir eine immer stärker werdende Ratlosigkeit auf: Den eben gelesenen Brief hat sie mir mit beinahe denselben Worten doch schon vor einem Jahr zum Geburtstag geschrieben. Warum diese Wiederholung? Habe ich zu wenig gefühlvoll darauf reagiert? Oder ist es bei ihr eine starke Grundstimmung, von der sie ganz vergessen hat, dass sie sie mir schon einmal beschrieben hat? Wer kennt diese Erfahrung nicht: Dinge, die einen stark beschäftigen, teilt man verschiedenen Gesprächspartnern mit. Und plötzlich wird einem  peinlich bewusst, dass man die ganze Geschichte seinem Gegenüber schon mal erzählt hat.

Was ist los mit Anna?

Die Sache mit den beiden Geburtstagsbriefen liegt einige Jahre zurück.  Zusammen mit Anna und anderen Freundinnen bin ich auf einer mehrtägigen Sommerreise. Wie immer auf solchen Reisen übernachten wir in einem ländlichen Gasthof, wo wir auch das Abendessen einnehmen. Die Aussicht im Speisesäli ist prächtig, das Essen vorzüglich, die Bedienung freundlich. Und doch finde ich später im Bett keine Ruhe: Wie kommt Anna dazu, sich so zu benehmen? Zuerst diskutiert sie lautstark über die hohen Preise der Speisen, bestellt dann das billigste; Wein will sie keinen, lässt sich aber einschenken und trinkt das Glas als erste leer. Beim Bezahlen lehnt sie die übliche Gesamtrechnung ab, da sie sonst zu kurz komme. Was ist nur in sie gefahren?

Der nächste Tag, Treffen in den nächsten Wochen und Monaten bringen weitere Auffälligkeiten. Manchmal schäme ich mich meiner Aufmerksamkeit. Warum kann ich sie nicht einfach akzeptieren, wie sie ist? Wieso sehe ich all diese Besonderheiten? Werden wir Menschen nicht alle mit zunehmenden Alter „eigener“, spezieller, schrulliger? Gerne hätte ich das mit ihr besprochen, doch ich finde keine Möglichkeit darüber zu reden. Bei unseren Zusammenkünften ist sie jetzt häufig gereizt, erzählt oftmals in rechthaberischem Ton seltsame Geschichten. Etwas stimmt nicht mehr. Soll ich mit ihrem Mann sprechen? Hinter ihrem Rücken? Oder doch abwarten? Als Anna Dinge erzählt, von denen ich weiss, dass sie sich so nicht zugetragen haben, schicke ich ihrem Mann nun doch ein sms und bitte um einen Rückruf. Er reagiert sofort und erleichtert. Endlich kann er darüber sprechen und muss nichts mehr beschönigen: Meine Freundin Anna leidet an der Alzheimer-Krankheit.

Noch mehr Veränderungen

In der Schweiz leiden mehr als 100’000 Personen an Alzheimer, einer Krankheit, die meist im Alter zwischen 60 und 70 Jahren ausbricht und durch eine fortschreitende Degenerierung der Hirnzellen zur Demenz führt.

Bei meiner Freundin zeigte sich die Krankheit anfangs nicht in einer ausserordentlichen Vergesslichkeit, sondern in starken charakterlichen Veränderungen: Sie nahm keine Rücksicht mehr auf Konventionen, in der Öffentlichkeit äusserte sie sich laut über anwesende Personen und zeigte mit dem Finger auf sie. Unbekümmert sprach sie wildfremde Personen an, erzählte ihnen Geschichten. Die Leute hörten zuerst interessiert zu, dann veränderten sich ihre Mienen und sie versuchten, sich unbemerkt davon zu machen. Anna wurde aber auch rechthaberisch, stur und behauptete die unmöglichsten Sachen. Immer wieder erzählte sie dieselben Geschichten. Und kochte die ewig gleichen Gerichte. Das Aufräumen wurde zum Lebensinhalt: Alle Dinge, von denen sie glaubte, ihr Mann brauche sie nicht mehr, warf sie hinter seinem Rücken weg.

Im Zusammensein mit ihr war eine gewisse Agression, eine Spannung spürbar. Sie wollte sich behaupten. Erzählte jemand im Freundeskreis von Reisen, war ihr stereotyper Satz: „Da bin i au scho gsi“, in einem ganz bestimmten Singsang mehrmals hintereinander vorgetragen, oftmals auch englisch verstärkt: „I was everywhere.“ Inhaltlich konnte sie dann aber nichts beitragen, meist war sie auch gar nicht an den betreffenden Orten gewesen.

Und plötzlich wusste Anna nicht mehr wie man Konfitüre zubereitet. Sie, die als Hausfrau und Mutter von 4 Kindern jedes Jahr unzählige Gläser mit Konfitüre gefüllt hatte. Auch an das einfache Rezept für „ihren“ Schoggi-Cake erinnerte sie sich nicht mehr. Wenn sie etwas erzählte, traten gewisse Wendungen gehäuft auf: „S isch u-witzig gsi“, auch wenn es gar nicht lustig war.

Da sie keine Erinnerung und keinen Bezug zur soeben vergangenen Gegenwart hat, glaubt man, dass sie ihre Krankheit nicht realisiere. Ich bin mir da nicht so sicher. In den ersten Jahren war es ihr peinlich, wenn sie merkte, dass sie etwas Unpassendes gesagt hatte. Auch entwickelte sie im Gespräch mit uns eine Fertigkeit, blitzschnell die von einer anderen Gesprächsteilnehmerin geäusserte Meinung oder Bemerkung zu wiederholen, so dass weniger aufmerksame Zuhörer gar nicht merkten, dass ihr Beitrag nur eine Wiederholung war. Ich glaubte auch zu spüren, wie unzufrieden sie war, wenn sie merkte, dass sie sich nicht passend ausdrücken konnte. Und Fragen mag sie gar nicht, weil sie die Antworten nicht formulieren kann oder nicht weiss. Wenn sie Gegenstände nicht benennen kann, zeigt sie darauf wie ein Kind: „Das da.“

In einer eingeschränkten Welt

Seither sind weitere Jahre vergangen. In unserem Literaturclub treffen wir unsere Freundin Anna noch immer alle zwei Wochen. Eine von uns holt sie ab, sie kann nicht mehr autofahren – was sie erstaunlich lange konnte – , aber sie nimmt noch immer rege teil am Strassenverkehr. Bis vor einem Jahr konnte sie von unseren Treffpunkten noch allein zu Fuss nach Hause gehen. Jetzt findet sie ihren Heimweg nicht mehr. Sie begrüsst uns alle jeweils freudig, unsere Namen hat sie vergessen, wie sie sich auch an die Namen ihrer Kinder und Enkel nicht mehr erinnert. Letzthin hat sie ihrem Sohn den eigenen Vater vorgestellt: „Das isch min Ma.“

Im Lesekreis widmen wir uns jeweils einem Autor, von dem wir ein oder mehrere Bücher lesen, gewisse Textteile lesen wir im gemeinsamen Kreis, grössere Abschnitte zuhause und diese besprechen wir an unseren Treffen. Der Lektüre eines Buches kann meine Freundin nicht mehr folgen, sie liest auch nicht mehr selber, obwohl sie die meisten Buchstaben noch kennt. Wahrscheinlich ist es ihr zu anstrengend.

Seit einiger Zeit singen wir mit Anna zu Beginn unseres Literaturnachmittags einige Volkslieder, was ihr grosse Freude bereitet. Meist findet sie die angegebene Seite im Singbüchlein selber und singt dann aus voller Brust mit, erstaunlicherweise richtig in den Tönen und den Worten, die sie auswendig kennt.

Unser späteres Lesen und unsere Diskussionen unterbricht sie immer wieder mit Ausrufen des Erstaunens, etwa wenn sie ein Schiff auf dem See, einen Vogel am Futterbrett, eine Fliege am Fenster sieht. Öfters geht sie zum WC, das sie nicht immer findet, oder schnell ins angrenzende Zimmer. Sonst sitzt sie still da und schaut in die Ferne. Lesen wir etwas Lustiges, lacht sie mit, weil wir lachen. Hustet oder niest eine Teilnehmerin streichelt sie tröstend ihren Arm: „Häsch öppis?“ Manchmal erzählt sie ohne Zusammenhang: „Ich bi z S ufgwachse. Und ich bi Lehreri gsi.“ Und wiederholt das mehrmals.

Nach der Literatur trinken wir Tee und essen etwas Süsses. Da sitzt sie glücklich dabei. Immer wieder fragt sie von neuem nach einem Stücklein Kuchen. Zwischendurch erkundigt sie sich wiederholt: „Gäll, ich fahr mit Dir hei?“, wobei verschiedene Personen angesprochen werden. Hat sie früher bei jedem Treffen eine immer gleiche Geschichte erzählt, so nimmt sie jetzt kaum noch am Gespräch teil. Es gelingt uns nur selten, sie  mit einzubeziehen. Aber sie sitzt zufrieden da. Ihre frühere krankheitsbedingte Aggressivität hat sich gelegt. Nur selten tritt eine gewisse Starrköpfigkeit auf, die sich mit rationalen Argumenten nicht auflösen lässt.

Annas Verhalten ist nicht einzuordnen.

Immer wieder bin ich erstaunt darüber, wie Anna gewisse Handgriffe noch mühelos beherrscht, während sie andere Dinge, die ihr jahrelang eine Selbstverständlichkeit waren, total vergessen hat. Nach meiner Beobachtung haben diese unterschiedlichen Fähigkeiten nichts mit ihrer Gefühlswelt zu tun: Es ist nicht so, dass sie Dinge, die sie besonders gerne tat, noch verrichten kann und die unangenehmen vergessen hat. Im Gegenteil, ihre Wahrnehmungsausfälle oder ihre Unfähigkeit, sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, etwas auszuführen oder nicht, ist rein zufällig. Es gibt dafür keine Begründung oder Erklärung, was es für die Umgebung nicht einfacher macht. Wir sind uns so gewohnt, die Reaktionen und Verhaltensweisen unserer Mitmenschen gemäss unseren rationalen Erfahrungen einzuordnen und zu werten, dass wir schnell hilflos werden, wenn wir uns an keinen Normen mehr orientieren können.

Der Alzheimerkranke ist nicht nur nicht mehr der, der er war, sondern er verhält sich auch ganz allgemein sonderbar und unverständlich, er lebt nicht mehr in der Realität. Deshalb ist es  unmöglich, wirklich mit ihm zu kommunizieren. Man muss den Kranken nehmen wie er ist, in seiner ganzen Unverständlichkeit und Unzugänglichkeit. Man kann ihn nicht ändern oder seine Fähigkeiten verbessern.

Zuhause wird Anna von ihrem Mann betreut, er ist ihre einzige  Bezugspersonen, andere kennt sie nicht mehr. Unablässig sucht sie seine Gegenwart. Er ist ihre Heimat und Geborgenheit. Ohne ihn wäre sie verloren, immer wieder bringt sie das in ihrem Verhalten zum Ausdruck. Bei ihm fühlt sie sich aufgehoben, was sicher der Grund ist für ihre Zufriedenheit und Ausgeglichenheit. Sie leidet nicht – wie viele andere Alzheimer-Kranke – an Verlassenheitsgefühl.

Doch was bringt die Zukunft? Die Prognosen lauten schlecht: Die Demenz schreitet weiter voran, weitere Fähigkeiten, auch die Kontrolle von Körperfunktionen werden verloren gehen. Alzheimer ist eine unheimliche Krankheit. Wir werden versuchen, Anna so gut und so lang wie möglich an unserem „normalen“ Leben teilhaben zu lassen.

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