Marignano

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Da stehen wir in dieser flachen grauen Landschaft bei Marignano, die Füsse nass vom herunterprasselnden Regen. Die schmale Strasse vor uns ist mit Baumaschinen versperrt, rechts, etwas tiefer gelegen, liegt eine baumlose Ebene mit angefaulten Maisstoppeln, links ziehen sich dunkelrote Mauern aus verwitterten Backsteinen in die Höhe. Sind wir hier richtig? Unsicher gehen wir in eine kleine löchrige Gasse hinein und kehren gleich wieder um. Nichts.
Wir suchen das Beinhaus von Marignano, errichtet im Andenken an die Tausende von Eidgenossen, die 1515 im Kampf um Oberitalien und Mailand ihr Leben liessen.
Da steht es bescheiden, hart an der Strasse. Angebaut an eine der dunkelroten Backsteinmauern, leuchtet es zaghaft hellgelb durch den strömenden Regen.
Im Innern enthält ein Sarkophag zahlreiche Gebeine, die an die todesmutigen eidgenössischen Krieger erinnern, die für sich selbst und als Söldner für den Papst, den Herzog von Mailand, aber auch für die Gegenseite – die Franzosen – ins Feld gezogen waren. 1481 war jedem der zehn verbündeten Orte seine Autonomie garantiert worden, seither konnten sie sich auch im Feld nicht auf eine einheitliche Strategie festlegen. Ihre Uneinigkeit untereinander führte zur grossen Niederlage, welche die Eidgenössischen Orte schliesslich dazu zwang, an keinen weiteren Kriegen ausserhalb ihrer Grenzen mehr teilzunehmen. Gleichzeitig predigte auch Huldrych Zwingli, der als Feldprediger und Krieger ebenfalls an der Schlacht von Marignano teilgenommen hatte, gegen die Reisläuferei. Die Eidgenossen sollten sich nicht mehr als bezahlte Kämpfer für fremde Mächte zur Verfügung stellen. Es entwickelte sich das Bewusstsein, es sei besser, sich nicht mehr in fremde Händel einzumischen. Aus dieser Selbstbeschränkung, die auch in der Warnung von Bruder Klaus „Machet den Zun nit zu wyt“ ihren Ausdruck fand, wuchs die Neutralität der Schweiz heran.
Nach einem letzten Blick über das weite Feld von Marignano, das das Blut von Tausenden aufgenommen hat, fahren wir nach Zividio, wo bei einer roten Backsteinkirche mit angebautem Haus ein Schlachtdenkmal für die gefallenen Eidgenossen steht. Neu soll dabei eine Tafel mit den Namen der gefallenen Tessinern angebracht werden, die kürzlich im Tessin gefunden wurden.
Das Ganze ist von einer Mauer umgeben; Einlass gibt es nur über eine Gegensprechanlage. Vor der Kirche steht eine kleine weisse Frau: weiss das Gesicht, weiss die Hände, weiss die Haare, weiss das Kleid, eine alte Nonne. Freundlich empfängt sie uns und führt uns durch den Regen ins Haus, wo leise zwei weitere völlig weisse Nonnen auftauchen. Durch einen Abstellraum gelangen wir in den Altarraum der Kirche. Überall stehen grosse Plastikbehälter, die das Regenwasser vom tropfenden Dach auffangen. Behende räumt die kleine Frau Bänke weg und öffnet eine Seitentüre, durch welche wir über eine Holztreppe in die Krypta gelangen. Grabplatten der früheren Besitzer, der Herzöge Sforza aus Mailand, liegen im Boden eingemauert. An der einen Wand ist ein Metallrelief der Schlacht von Marignano eingelassen. Deutlich sind darauf der mächtige Kardinal Schiner aus dem Wallis als Vertreter des Papstes zu sehen. Auf einem Pferd ragt der französische König Franz I., der Sieger der Schlacht, aus der Menge der Soldaten. Die Eidgenossen kämpfen wie gewohnt zu Fuss mit Hellebarden und Spiessen, ihnen fehlt die neu aufgekommene Artillerie.

Der Herzog, dem diese Kirche gehört, hat diese Tafel zur 400-Jahr-Feier anfertigen lassen. Die Eidgenossen standen 1515 auch in seinem Dienst. Wie wir später mit den kleinen Nonnen in der Küche am Tisch sitzen und Kaffee aus den feinen goldenen Espressotassen trinken, wandern die Gedanken:
Wie ist das 2015? 500 Jahre nach diesen Kämpfen nimmt die offizielle Schweiz das Gedenkjahr kaum zu Kenntnis. Diese Schlacht bei Marignano ist zwar die grösste Niederlage in der Geschichte der Eidgenossenschaft, aber eine höchst folgenschwere und bedeutungsvolle. Die Grundlagen unserer Neutralität, welche uns immerhin durch zwei schwere Weltkriege begleitet hat, liegen darin. Ist es möglich, dass eben dies die Classe politique stört? Ein Gedenkanlass für den Ursprung unserer Neutralität passt nicht mehr in ihr Vorhaben, die Schweiz dem organisierten Europa anzupassen.

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