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Allzu neugierig

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Wir hatten uns alle sehr auf unsere Wanderferien gefreut. Mit dem Rucksack von Ort zu Ort zu ziehen hatte etwas Abenteuerliches an sich. Leider spielte das Wetter nicht mit, es regnete schon den zweiten Tag. So hatten wir beschlossen, einen Ruhetag einzuschalten und uns dafür in der Umgebung des kleinen Ferienortes etwas umzuschauen.

Eisenstäbe bauten sich in regelmässigen Abständen neben unserem Weg auf. Die hinter dem Gitter gepflanzten Bäume und Sträucher versperrten mir zwar die Aussicht, doch ich war überzeugt davon, dass sich dahinter ein prächtiger Park mit einem womöglich noch prächtigeren Herrenhaus befinde. Endlich standen wir vor einem reich verzierten Tor. Es stand offen. Eine grosse Allee führte zur imposanten Eingangstreppe, der Garten lag auf der anderen Seite. Meine Ahnung schien sich zu bewahrheiten: Haus und Garten waren wunderbar erhalten. Doch gleich zu Anfang der Toreinfahrt standen in Reih und Glied zahlreiche modern genormte Blechbriefkästen. War das nun ein Geschäftshaus mit Büros geworden oder hatte man Wohnungen in dieses herrliche Haus gebaut? Die Neugier brannte, und so wagte ich an der Aufschrift „Privat“ vorbei, einen Schritt durchs Tor, um die Schildchen auf den Briefkästen entziffern zu können. Da sah ich plötzlich nichts mehr. Die feuchte Luft hatte die Adhäsionskraft meiner Linse so vermindert, dass sie mir ganz ohne mein Zutun aus dem Auge gefallen war. Schon stand meine ganze Familie aufgeregt um mich herum. Mein Mann schalt meine Neugier, wohlwissend dass ich den Rest der Ferien ohne „Auge“ kaum würde geniessen können. Die Kinder kauerten mit mir auf dem gekiesten Platz im fremden Garten und scharrten in den Steinchen. Die Scham und der Gedanke an die fremden erstaunten Gesichter an den Fenstern des gepflegten Hauses trieben mir die Tränen in die Augen und trübten meinen Blick noch mehr. Auch meinem Mann war die Sache peinlich. Fortwährend versuchte er uns von der Aussichtslosigkeit unseres Suchens zu überzeugen um uns endlich wieder auf der unverfänglichen Strasse zu haben. Eigentlich hatte er recht. Jedes regennasse Steinchen glitzerte wie eine Linse, es war aussichtslos. Auf dem Heimweg zur Unterkunft sparte er nicht mit Vorwürfen. Aber mir liess das ganze keine Ruhe. Heimlich verabredete ich mich mit meinem Ältesten. Wir zwei wollten zurückkehren und nochmals zwischen den Steinchen nach der Linse suchen. Zu zweit kauerten wir im Regen zwischen dem altem Eisentor und den neuen Briefkästen und kehrten Steinchen um Steinchen um. Da streckte mir mein Ältester unversehens seine Hand entgegen: Da lag meine Linse.

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