Rubrik: Das geht zu weit /

Aus meiner Zeit in Bern (geschrieben 21.11.2007)

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„Meine Damen und Herren, wir treffen in Bern ein.“ Auf dem Bahnsteig empfängt mich der süssliche Geruch von Haschisch. Jede Stadt habe ihren Geruch, habe ich einmal gelesen. Inmitten einer Menge von unzähligen Reisenden steige ich die Treppe vom Perron hinunter. Einige wenige versuchen gegen den Strom zu schwimmen um ihren Zug zu erreichen. Ein Mann kommt direkt auf mich  zu. Ich kann im Gewühl nicht ausweichen und bleibe stehen. Er jedoch rempelt mich mit ungebremster Wucht an, und ich verliere durch den kräftigen Stoss beinahe das Gleichgewicht. Ohne ein Wort der Entschuldigung geht er weiter. Fassungslos blicke ich in die Gesichter der Menschen neben mir: Erschrecken und Unverständnis sehe ich. Doch die Menge drängt weiter. Unten, in der Bahnhofhalle steigt Empörung und Wut in mir auf. Warum habe ich ihn nicht zurückgestossen? Es wäre einfach gewesen. Er wäre gefallen. Vielleicht hätte er den Kopf aufgeschlagen. Weiter will ich nicht denken. Aber es bohrt weiter: Warum habe ich mich nicht gewehrt? Ihn nicht wenigstens angeschrieen? Ist es die Verletzung durch die Schlagzeilen gewisser Medien, die ich fürchte? Wie oft haben sie verantwortungslos Menschen und ihre Existenzen kaputt gemacht, nur um den eigenen Gewinn durch reisserische Lügen zu verbessern?

Schon bin ich wieder am Tageslicht. Ein verwahrloster Mann bettelt mit aufdringlich ausgestrecktem Arm, indem er den Reisenden zusammen mit seinem Hund die Hälfte des Ausgangs versperrt.

Heute habe ich keine Lust mir meinen Weg durch das Gedränge unter den Lauben zu kämpfen. Ich weiche auf das Trottoir der Verkehrsstrasse aus, wo ich zügig ausschreite. Da erschreckt mich ein laut herausgeschrieenes Schimpfwort „Du dumme S…!“ Eine Frau schreit es einem Velofahrer nach, der sie auf dem Fussgängerstreifen beinahe zu Fall gebracht hat. Nach meinem Erlebnis im Bahnhof kann ich ihren Zorn gut verstehen. Mich überkommt eine beinahe unbändige Lust umzukehren und den nächsten Zug nach Hause zu nehmen. Weg, nur weg. Am Kornhausplatz warte ich, bis der Bus mir den Durchgang freigibt. Aus einem Fenster streckt mir eine Frau die Zunge heraus.

Am nächsten Tag fahre ich von Bern nach Thun. Der Zug ist gut besetzt. Dreimal bitte ich im 1. Klasse-Wagen um einen freien Sitz. Jedesmal kommt der Bescheid „Besetzt“. Im letzten Abteil kann ich mich endlich setzen. Erst jetzt kehrt sich meine anfängliche Belustigung über die besetzten Plätze in Nachdenklichkeit. So kurz vor der Abfahrt warteten drei Personen auf jemanden, der noch kommen sollte? Oder war man einfach zu bequem, die Mappe vom Sitz zu nehmen? Wollte man nach der Abfahrt die Füsse hochlagern? Der Zug fährt ab. Mehrere Reisende stehen im Gang. Ob die drei Plätze jetzt besetzt sind?

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