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Der chinesische Bauch

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Ein Virusangriff legt mich unversehens lahm. Fieber, Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit plagen mich. Die geplante Weihnachtsfeier für den Abend mit allen Kindern und Enkeln ist undenkbar geworden. Kraft-, saft- und willenlos ergebe ich mich der Schwäche und döse und schlafe, weit weg von allen Verpflichtungen.

Am dritten Tag lässt das Fieber nach, Gedanken beginnen sich zu regen: „So schnell wird der eigene Bauch zum Mittelpunkt der Welt!“ Bilder von Buddha tauchen auf. Ist nicht bei den Chinesen der Bauch der Sitz des Lebens? Wichtiger als das Herz? Erinnerungen tauchen auf aus unserer ersten China-Reise vor vielen Jahren. Damals, als die Chinesen auch in den Städten noch in grösster Einfachkeit lebten, als sich im Zentrum von Shanghai viele Menschen in den heissen Sommernächten draussen vor ihre kleinen einstöckigen Häuser legten, um Enge und Hitze des kleinen Wohnraums zu entfliehen. Damals, als die zerstörerische Kulturrevolution erst wenige Jahre zurück lag, als die Scherben dieses unverständlichen rücksichtslosen Zerschlagens sämtlicher Traditionen und Sitten, jahrhundertealter Kulturen und Baudenkmäler überall noch sichtbar waren und die aufbrechende Primitivität nur bruchstückhaft verdeckten. Damals war etwas vom Wenigen, das erhalten geblieben war, die Liebe der Chinesen zum Essen. Zwar war auch hier die Tradition der verfeinerten Zubereitung und das kunstvolle Anrichten der Mahlzeiten zerstört, vergessen oder verpönt, aber das Essen an sich war noch immer unendlich wichtig. So wichtig, wie es nur bei Völkern sein kann, die Entbehrung, Nahrungsmittelknappheit oder gar Hungersnot kennen.

Bei den Einladungen, die damals zu „unseren Ehren“ – in Wahrheit nicht weniger zur Freude der Gastgeber und anderer einheimischer Teilnehmer – gegeben wurden, bogen sich die Tische unter der Last der unzähligen Gerichte, deren Vielfältigkeit und Exzentrik unsere Magensäfte oftmals erstarren liessen. Alles, was sich bewegte und wuchs, Pflanzen und Tiere, wurde zubereitet und verspiesen. Jedes Gericht wurde kommentiert, die Herkunft erklärt und immer darauf hingewiesen, wozu es gut sei. Dabei zeigte sich bald, dass es vor allem zwei körperliche Vorgänge gab, die immer wieder erwähnt wurden und die es bei jedem Bissen zu beachten galt: „gut für die Verdauung“ und „gut für die Potenz“. Damals habe ich manchmal heimlich gelacht, wenn einer der beiden Sätze zum x-ten Mal wiederholt wurde. Heute habe ich gelernt wie unabdingbar wichtig diese beiden elementaren Vorgänge sind, die das Leben überhaupt erst ermöglichen. Was ist Leben anderes als „leben“? Der Sinn des Lebens besteht in leben. Alle Lebewesen brauchen die Fähigkeit, Nahrungsmittel in Energie und körpereigene Materie umzusetzen; sie brauchen eine Verdauung. Und alle Lebenswesen brauchen die Fähigkeit, Leben weiterzugeben. Ohne „zeugen und gebären“ stirbt die Menschheit aus.  „Verdauung“ und „Potenz“: Die Chinesen haben mit ihren zwei recht handfesten Ausdrücken die Sache auf den Punkt gebracht.

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